„Technologie, Talente und Toleranz“. Diese drei „T“ stecken das Feld ab, auf dem nach Richard Floridas Wachstumstheorie Regionen und Städte um eine erfolgreiche wirtschaftliche Zukunft wetteifern. Technologie und Talente behandelten wir bereits in Beiträgen, im folgenden soll es um das dritte „T“, Toleranz, als Erfolgsfaktor blühender Städte gehen.
Talente – die Träger des kreativen Kapitals – sind der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg und zur Resilienz eines Standortes. Um für die se Talente attraktiv zu sein, brauchen Städte und Regionen nicht nur international angesehene Hochschulen und innovative Unternehmen als potenzielle Arbeitgeber. Das Anlocken (und Halten) von Talenten wird laut Florida nur gelingen, wenn in der Stadt eine tolerante und anregende Kultur herrscht. Denn kreatives und innovatives Schaffen entfaltet sich vor allem dort besonders gut, wo Offenheit gegenüber neuen Ideen und Einflüssen und ein produktiver Umgang mit unter schiedlichen Sichtweisen und Fähigkeiten zu finden sind. Nur so kann sich die kreative Sadt von herkömmlichen Standortpolitiken und Stadtmarketing abheben und im Konkurrenzkampf um die begehrten Wissensarbeiter und Kreative langfristig erfolgreich sein.
Kosmopolis
Die Dynamik und Innovationskraft von Städten war schon immer zum großen Teil das Ergebnis eines kontinuierlichen Zustroms von Ideen, Gütern und Menschen. Einwanderer importieren nicht nur neue Ideen und Fertigkeiten, sondern auch ihre Heimatkontakte. Hafenstädte waren deshalb so innovativ, weil sie, auch wenn sie ihre Einwandererpopulation nicht auf Dauer beheimateten, mit anderen Orten in Verbindung standen und Menschen und Dingen, die um den Erdball zirkulierten, vorübergehend ein Refugium boten. Auch
der erstaunliche Erfolg der Stadt Athen im 5. vorchristlichen Jahrhundert war zum großen Teil ihrer Offenheit für äußere Einflüsse zu verdanken und der Tatsache, dass über ein Drittel ihrer freien Bevölkerung im Ausland geboren war (Wilson 2022).
Auch heute zeigt sich ein bedeutender wirtschaftlicher Impuls von Einwanderern, beispielsweise im Silicon Valley in Kalifornien. Rund ein Drittel der dort ansässigen Unternehmen wurde von Einwanderern gegründet. Knapp über die Hälfte der US-amerikanischen Mrd.-Dollar-Start-ups (Unicorns) haben mindestens einen immigrierten Gründer, 80 Prozent dieser Unternehmen haben einen Immigranten in einer Schlüsselposition (Visual Capitalist 2023).
Offenheit bezieht sich ebenso auf den Anteil der im Ausland geborenen Einwohner, den sogenannten Melting-Pot-Index. Die Metropolen des Florida Rankings weisen im Vergleich zum nationalen Durchschnitt einen hohen Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung auf (Abb. 12). Zürich, London, Wien, Amsterdam, München und Frankfurt, liegen mit 31 bis 42 Prozent sogar deutlich über dem Durchschnitt europäischer Städte (unter 20 Prozent) (Eurostat 2022).
Die Statistiken zu Ausländern und im Ausland geborenen ergeben jedoch kein vollständiges Bild der Diversität und Vielfalt einer Stadt. Sie geben keine Aufschlüsse darüber, welcher Prozentsatz der Bevölkerung Kinder oder Enkel von Einwanderern sind. Zudem liefern sie auch keine Informationen über die Vielfalt der Nationalitäten oder deren Stellung innerhalb der Stadt. Besonders bekannt für ihre Weltoffenheit ist die Stadt Amsterdam. Dort leben Menschen aus mehr als 180 Staaten, ohne dass eine Gruppe dominiert.
Darüber hinaus haben weitere 50 Prozent der Einwohner mindestens ein Elternteil, das außerhalb der Niederlande geboren wurde (sogenannte Allochthone). Diese Details verdeutlichen die enorme Komplexität von Vielfalt und Integration unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten innerhalb von Städten.
Toleranz und Offenheit
Da der Migrationsanteil der Bevölkerung in deutschen und europäischen Metropolen in Zukunft weiter wachsen wird, können sich diese einen destruktiven Umgang mit Integration und kultureller Vielfalt längerfristig kaum leisten. Der These Richard Floridas folgend, nämlich dass Regionen in Zukunft nur dann wirtschaftlich erfolgreich sind, wenn sie internationaler und gesellschaftlicher Vielfalt eine positive Wertschätzung entgegenbringen, sollte bei der bislang eher negativ konnotierten Integrationsdebatte ein Perspektivenwechsel erfolgen. Der Blick sollte in diesem Sinne viel mehr auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Chancen und Potenziale gerichtet und diese gezielt gefördert werden.
Ein struktureller Mangel an Willkommenskultur kann das Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland maßgeblich behindern, zeigen aktuelle Studien (ZEW, InterNations 2024). Insbesondere (Groß)Unternehmen mit internationaler Ausrichtung und internationalisierten Strukturen sehen daher von Investitionen in Regionen mit hoher Fremdenfeindlichkeit ab. Fremdenfeindlichkeit schädigt das Image und die Attraktivität eines Wirtschaftsstandortes und damit dessen Zukunftsfähigkeit. So droht aktuell der derzeitige Höhenflug der AFD den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland zunehmend zu belasten.
Ein offenes und tolerantes Umfeld steht also in direktem Zusammenhang mit wirtschaftlicher Entwicklung und ist damit ein maßgeblicher Standortfaktor (und nicht nur ein optionales Qualitätsmerkmal) für betriebliche Entscheidungen. Dabei geht es auch, aber nicht nur, um die regionale Fähigkeit, ausländische bzw. ethnische Gruppen in die Unternehmen und die Gesellschaft einzubeziehen und zu integrieren. Unter Toleranz versteht Florida zusätzlich ein entspanntes und diskriminierungsfreies Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung und einen gelassenen Umgang mit verschiedenen Lebensstilen und Arbeitsweisen.
Um diese Qualitäten messbar zu machen, verweist Florida auf Indikatoren wie den Anteil Homosexueller an der Gesamtbevölkerung („Gay-Index“) oder den Anteil von Schriftstellern, Musikern, Schauspielern, Malern etc. in Kombination mit der Anzahl und Vielfalt der kulturellen Infrastruktur der Stadt bzw. Region („Bohemian Index“). Insbesondere beim Gay-Index kann eine erstaunlich hohe Korrelation mit der lokalen Kreativität und regionalem Wachstum nachgewiesen werden (Merx 2006).
Der LGBTQ2 -Index (Abb. 13) wiederum zeigt, wie LGBTQ-freundlich ausgewählte europäische Städte sind. Dabei wurden unter anderem der aktuelle Stand von LGBTQ-Rechten, -Gesetzen und -Freiheiten, die öffentliche Einstellung gegenüber LGBTQ-Angehörigen und die Größe der lokalen „Pride-Community“ berücksichtigt. Die Auswertung zeigt, dass Richard Floridas Top 15 die vordersten Plätze belegen und zu den 50 LGBTQ-freundlichsten Städten Europas zählen. London, Amsterdam, Madrid und Berlin bilden mit Manchester die Top 5 des LGBTQ-Index, wobei London sich mit deutlichem Abstand gegenüben den anderen Metropolen absetzt.
Nachtleben als Standortfaktor
Die kreative Klasse sucht – und schafft – ein offenes und dynamisches Umfeld. Um die besten Talente anzuziehen, müssen Städte ein urbanes Ökosystem schaffen, das speziell auf die Anforderungen der Wissensökonomie zugeschnitten ist. Dazu gehören nicht nur Cafés und erstklassige Restaurants, sondern auch Streetfood-Stände, ein pulsierendes (sub)kulturelles Leben, eine vielfältige Unterhaltungsszene und ein lebhaftes Nachtleben. Das Vorhandensein von Gastronomie und Bars sowie Unterhaltungseinrichtungen wie Theater, Live-Musikclubs und Diskotheken wird als konkreter Standortfaktor im Werben um junge Menschen in der Bildungs- und Berufseinstiegsphase gesehen und gehört entsprechend zum festen Bestandteil der Stadtmarketingklaviatur beinahe jeder europäischen Großstadt.
Eine Auswertung der auf der Touristikwebsite Trip Advisor angezeigten Bars und Restaurants zeigt, dass das Nachtleben vor allem in den ausgewählten europäischen Städten konzentriert und ein Indiz für die Strahlkraft dieser Metropolen ist (Abb. 14). Unter den deutschen Städten kann vor allem das Nachtleben in Berlin international mithalten. Die deutsche Hauptstadt verfügt gerade mit seiner international anerkannten Musikclubszene über ein Aushängeschild, das auch im Stadtmarketing – nicht nur für Touristen, sondern auch für die Anwerbung von Talenten – aktiv eingesetzt wird.
Die erfolgreichsten Städte und Metropolen sind vor allem diejenigen, die Kontraste zulassen. „Erst Rohheit, Kontraste und Konflikte verleihen einer Stadt ihr aufregendes Flair, ihre pulsierende Energie. […] Üble Kneipen und noch üblere Spelunken auf der einen, Glamour und Reichtum auf der anderen Seite – gerade das Widersprüchliche und Beunruhigende verleiht den Großstädten ihre Energie.“ (Ben Wilson).