
Versicherer bewegen Billionen an Kapital – doch die entscheidende Frage lautet nicht allein, wo sie investieren wollen, sondern auch wo sie regulatorisch investieren dürfen. Denn nicht die Rendite allein entscheidet über Allokationen, sondern die Kapitalbelastung unter Solvency II. Während die EU über das Long-Term Equity (LTE)-Regime Anreize für Beteiligungen setzt, geht das Vereinigte Königreich mit dem Matching Adjustment (MA) den Weg über Debt-Strukturen. Zwei Systeme, ein Ziel: Versicherungskapital in die Realwirtschaft und die Energiewende zu lenken.
Europa: Long-Term Equity – ein Hebel auf der Equity-Seite
Seit 2019 erlaubt die EU im Rahmen von Solvency II ein besonderes Kapitalregime für langfristig gehaltene Beteiligungen. Das sogenannte Long-Term Equity (LTE) senkt die Solvenzkapitalanforderung (Standardansatz) von 39 % auf 22 %.
Die Logik: Wenn ein Versicherer glaubhaft darlegt, dass er eine Beteiligung mindestens fünf Jahre hält und sie in ein gesondertes LTE-Portfolio einordnet, ist das Risiko kurzfristiger Volatilität geringer. Belohnt wird dies mit deutlich reduzierter Eigenmittelhinterlegung.
Praktisch profitieren davon vor allem Fonds mit Beteiligungscharakter – im Real-Assets-Bereich etwa Infrastruktur-Equity oder Private Equity. Die jüngste Weiterentwicklung (vgl. vorherige Kolumne) könnte LTE einen weiteren Schub verleihen: Früher musste der Versicherer für die LTE-Qualifikation eine vollständige Durchschau auf jeden einzelnen Vermögensgegenstand des Fonds vornehmen. Das bedeutete enormen Daten- und Verwaltungsaufwand. Nun darf LTE direkt auf Fondsebene angewandt werden.
Für Versicherer ist das eine erhebliche Erleichterung: Allokationen werden klarer, Solvenzberichte (QRTs, SFCR) einfacher, und Fondsinvestments können regulatorisch als ein Baustein behandelt werden. Für Produktanbieter eröffnet sich damit die Chance, Fonds gezielt LTE-fähig zu strukturieren – und so im Vertrieb deutlich attraktiver zu werden. Der Effekt ist greifbar: Bei einem Investment von 100 Mio. € muss der Versicherer statt 39 Mio. € (Standardansatz) nur noch 22 Mio. € Kapital hinterlegen (LTE-Modul).
UK: Matching Adjustment – ein Hebel auf der Debt-Seite
Ganz anders die Lage auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Solvency UK, die britische Variante nach dem Brexit, hat 2024 das Matching Adjustment (MA) grundlegend reformiert.
Das Prinzip: Versicherer dürfen bei der Bewertung ihrer Verpflichtungen (Liabilities) nicht nur den risikofreien Zins ansetzen, sondern einen Teil der Spreads ihrer Assets aufschlagen – vorausgesetzt, die Cashflows sind langfristig, stabil und passen exakt zu den Zahlungsverpflichtungen.
Ein Beispiel: Eine Lebensversicherung muss in 20 Jahren 100 Mio. € auszahlen. Ohne MA erfolgt die Diskontierung mit 2 % → Barwert: 67 Mio. €. Mit einer Infrastruktur-Anleihe, die 4 % Rendite abwirft, dürfen 150 Basispunkte Spread angerechnet werden. Diskontierung mit 3,5 % (MA wird auf den risikofreien Satz aufgeschlagen) → Barwert: 50 Mio. €. Also mathematisch: Diskontsatz = Risikofreier Zins + (Spread-Fundamental Spread). Ergebnis: Liabilities sinken bilanziell, die Kapitalanforderung reduziert sich.
Genau hier setzt die Reform von 2024 (PRA Policy Statement PS10/24) an: Erstmals dürfen auch Assets mit „highly predictable cashflows“ ins MA-Portfolio aufgenommen werden – bis zu 10 % des Vorteils. Damit öffnet sich die Tür für mehr Infrastruktur-Debt, Loans und langlaufende Bonds.
Historisch betrachtet war das MA schon früher ein Zugeständnis an den großen britischen Lebensversicherungsmarkt. Doch während es in der EU unter Solvency II zwar in engen Ansätzen existiert, aber kaum genutzt wird, hat das Vereinigte Königreich nach dem Brexit die Flexibilisierung massiv vorangetrieben. Inzwischen ist MA dort zu einem zentralen Steuerungsinstrument geworden.
Zwei unterschiedliche Wege, ein gemeinsames Ziel
Der Vergleich zeigt ein klares Muster:
- EU (Solvency II): Fokus auf Equity. Über LTE werden Beteiligungen an Infrastruktur und Private Markets regulatorisch erleichtert.
- UK (Solvency UK): Fokus auf Debt. Über MA werden Schuldinstrumente mit stabilen Cashflows attraktiver gemacht.
Das Ziel ist identisch: Die gigantischen Kapitaltöpfe der Versicherer sollen in Green Deal, Energiewende und Infrastrukturprojekte fließen. Die Wege unterscheiden sich – einmal über Eigenkapital, einmal über Fremdkapital.
Was bedeutet das für Produktanbieter und Asset Manager?
Die Anforderung, diese Mechanismen ins Produktdesign einzubauen und im Vertrieb aktiv zu adressieren, ist erheblich gestiegen. Noch immer wird oft allein mit Fondsrendite argumentiert – aber nicht mit der Eigenkapitalrendite des Versicherers, ein Parallelproblem zu ebenfalls über das Eigenkapital regulierte Kreditinstitute. Diese Sichtweise ist veraltet. Versicherer wie eben auch Kreditinstitute kalkulieren regulatorisch.
Ergebnisse:
- Solvency II (LTE) und Solvency UK (MA) sind längst industriepolitische Steuerungsinstrumente – nicht bloß Sicherheitsregime.
- EU (LTE): Erleichterung auf der Equity-Seite.
- UK (MA): Flexibilisierung auf der Debt-Seite.
- Für Produktanbieter: Wer Solvency-Mechanismen im Design berücksichtigt und im Vertrieb kommuniziert, verschafft sich einen strukturellen Vorteil.